Wer Siemens hört, denkt an Turbinen, Wäschetrockner oder Röntgengeräte, aber nicht an Software, zumindest nicht sofort. Dennoch arbeiten weltweit etwa 18.000 Software-Entwickler bei dem Technologiekonzern. Der Standort in Karlsruhe ist ein Zentrum für Prozessautomatisierung, Fertigungsautomatisierung, Gebäudeautomatisierung und Industrial Services. Im Siemens Industriepark sprechen Steffen Wagner und Klaus Baumgartner mit dem VKSI Magazin über die „Softwareschmiede Siemens“.
Karlsruher Dampfkraftwerk. Foto: Mathis
Susann Mathis: Siemens Karlsruhe ist in den VKSI eingetreten. Ist Siemens überhaupt eine Softwarefirma?
Baumgartner: Noch wird Siemens nicht als Softwarefirma wahrgenommen. Mit Siemens assoziiert man eher einen Industrieriesen, der Züge, Kraftwerke und Computertomografen herstellt. Wir versuchen aber diese Außenwirkung zu korrigieren, etwa indem unsere Kollegen auf Fachmessen wie der JavaLand, der OOP, der JAG oder der Java Conference zeigen, wie bei Siemens moderne Technologien, etwa jscript oder typescript, verwendet und weiterentwickelt werden.
Wagner: Gleichzeitig findet bei Siemens intern ein Umbruch statt. ‚Früher“ waren die meisten Produkte tatsächlich eher hardware-lastig, heute bewegt sich der Trend in Richtung Digitalisierung, also Software. Dazu gehört etwa die übergeordnete Infrastruktur wie zum Beispiel ERP Systeme. Früher kamen Sie für viele Anwendungen alleine mit Hardware aus. Heute geht fast nichts mehr ohne Software. Erst diese macht die Hardware ‚intelligent“. So liegt es in unserem eigenen Interesse, die Automatisie-rung in Richtung der Digitalisierung weiter nach vorne zu treiben und dieses zentrale Feld mit zu besetzen.
Baumgartner: Auch in den industriellen Bereichen, in denen wir arbeiten, wird die Softwareleitstelle immer wichtiger. Sie managet die ganzen Gewerke einer Domäne, zum Beispiel: ankommende Alarme behandeln, Steuerungen ausführen, Protokolle über den Systemzustand ausgeben lassen oder sogar den Zugang von Servicedienstleistern verwalten. Heute steht Software klar ganz oben in der Wertschöpfungskette und dort sitzt der erste Ansprechpartner für das Geschäft. Die Rolle der Hardware wird kleiner.
SM: Aber es gibt doch auch nur wenige, die solche Hardware wie ein Kraftwerk tatsächlich bauen können?
Wagner: Das ist richtig, doch auch hier ist die Leittechnik das Gehirn und das Nervensystem der Anlage. Außerdem kündigen sich im Kraftwerksmarkt große Veränderungen an: Neben den Großanlagen werden immer mehr kleinere dezentrale Stromer-zeugungseinheiten entstehen. Damit treten ganz neue Player in den Markt ein, das ändert die Anforderungen an die Steuerung – und damit an die Software.
SM: Siemens produziert und betreut Hardware, gleichzeitig folgt auch Siemens dem Trend, mit agilen Methoden zu entwickeln, da treffen doch Kulturen aufeinander, wie lösen Sie diesen immanenten Konflikt?
Baumgartner: Natürlich ist es mehr eine Evolution als eine Revolution. Inzwischen werden Lean-Konzepte und agile Softwareentwicklung auch bei Siemens betrieben und sind weit verbreitet. Die Grundmechanismen, die die kürzeren Zyklen der agilen Softwareentwicklung überhaupt erlauben, sind den Mitarbeitern mittlerweile in Fleisch und Blut übergegangen. Vor allem in den Bereichen, die große Softwaresysteme mit mehreren Hunderttausend Lines of Code entwickeln, also große Client-Server-Systeme, in diesen Abteilungen kommen heute vorwiegend agile Methoden zum Einsatz.
Wagner: Wir liefern zum einen Hardware mit Embedded Systemen, aber wir liefern auch die übergeordneten Leittechnik-Systeme. Vor allem mit unserer Hardware sind wir in einen großen Product Lifecycle Management Prozess eingebunden, der schon weit vor der Produktion beginnt mit der Bedarfsanalyse, Spezi-fikationsphase, dann hinterher mit dem Deployment, der Nachlieferung und so weiter. Intern befinden wir uns zum Beispiel gerade im Planungsprozess für die nächsten Verbesserungen von Turbinen. Das ist eine interessante Frage, denn hier versuchen wir auch bei der Hardware-Entwicklung, agile Prozesse reinzubringen. Natürlich gibt es hier gewisse Hürden zu überwinden, aber es wird darüber nachgedacht, agile Prinzipien anzuwenden. Trotzdem bleibt eine Tatsache: Die Industrie-Zyklen für Entwicklung sind länger im Vergleich zu Softwarelieferungen.
Baumgartner: Wir sprechen von Zeiträumen, die oft mehrere Jahre dauern. Manche Kunden denken gerade alle zehn Jahre mal über ein Software Upgrade nach. Neue Bedürfnisse und kürzere Zyklen entstehen aber auch hier – vor allem durch gewachsene Anforderungen an die IT-Sicherheit oder auch neue Bedarfe, was Webanwendungen anbelangt.
SM: Was ist für Softwareentwickler bei Siemens interessant?
Wagner: Intern wurde in den letzten Jahren eine ‚Common Remote Service Plattform“ entwickelt, die es über alle Siemens Bereiche hinweg möglich macht, schnelle Entwicklungen an den Kunden zu geben und ein Netz zu allen Siemens-Kunden aufbaut und verwaltet. Hier wird gerade die nächste Stufe gebaut und das unterstützt uns nicht nur in der Vernetzung mit dem Kunden, sondern hilft auch, Software schneller auszuliefern oder Ferndiagnose durchzuführen.
Baumgartner: Software Entwicklung insgesamt bei Siemens bedeutet: Embedded Software, Verwaltungssysteme, Leittechnik, darüber die Global Remote Service Plattform. Dazu gehören außerdem Mobile Apps, Webinterfaces und Cloud-Lösungen. Auch intern geht man aktuell immer mehr zu einem ‚cloud first“-Ansatz über, damit Daten eher im Netzwerk als lokal gesichert werden, um so den Zugriff und die Verwaltung zu erleichtern.
Wagner: Aber es gibt auch noch ganz andere Faktoren, die Siemens als Arbeitgeber interessant machen: Der Konzern bietet, gerade durch seine Größe und seine weltweite Präsenz, eine hohe Flexibilität in Bezug auf Standort und Tätigkeit. Man kann ins Ausland gehen, den Fachbereich wechseln, zum Beispiel von Gebäudeautomatisierung in den Energiebereich oder auch zur Medizintechnik. Es gibt unterschiedliche Weiterbildungschancen und Karrierepfade und darüber hinaus bietet Siemens moderne Arbeitsbedingungen, wie etwa flexible Arbeitszeiten inklusive Home Office, Elternzeit oder die Arbeit in internationalen Teams.
SM: Und woran arbeiten die Softwareentwickler bei Siemens in Karlsruhe?
Wagner: Softwareentwickler bei Siemens Karlsruhe arbeiten vor allem in der Prozess-Automatisierung, in der Stromerzeugung und für integrierte Sicherheitslösungen. Ganz konkret handelt es sich dabei zum Beispiel um die Leittechniksoftware für das Dampfkraftwerk im Rheinhafen. Siemens hat diese Kraftwerkssteuerung, also quasi das Gehirn des Kraftwerks, aufgebaut und innoviert sie nun permanent weiter. Wir sind hier die Nummer 1 am Weltmarkt. Von uns stammen aber auch zum Beispiel die Zutrittskontrollen bei SAP. Darüber hinaus arbeiten wir am Entwicklungsstandort Karlsruhe an Softwarelösungen für die Energiewende oder die Industrieautomatisierung.
SM: Bietet Siemens spezielle Weiterbildung für Software-Ingenieure an?
Baumgartner: Wir bieten Schulungen und Ausbildungsmöglichkeiten für interne Karrierepfade an, um Fachkräfte zu Key-Entwicklern oder Senior-Softwarearchitekten auszubilden. Zu unserem „Software-Curriculum“ gehören dabei moderne Methoden wie Requirements Engineering, Software Craftsmanship, Clean Code, Test Driven Development, Pattern Thinking, agile Entwicklungsmethoden und so weiter. Hier verfolgt Siemens weltweit das Ziel der „People Excellence“.
Wagner: Das „Software-Curriculum“ bei Siemens ist ein praxisorientiertes System- und Softwarearchitekten-Curriculum. Der Begriff System beschränkt sich hier nicht allein auf IT-Systeme, sondern auf alle technischen Systeme, z. B. Steuerungstechnik oder auch Kraftwerke. Siemens verfolgt hier zwei wesentliche Ziele: Zum einen soll die Qualifikation erfahrener System- und Softwarearchitekten weiter verbessert werden, zum anderen soll durch eine Vorauswahl und eine Zertifizierung sichergestellt werden, dass die System- und Softwarearchitekten über die technischen und sozialen Fähigkeiten verfügen, die sie benötigen, um Systeme oder Software mit besonders kritischen oder innovativen Anforderungen entwickeln zu können. Genau diese Kombination aus verschiedenen Systemen und Software macht Siemens als Arbeitgeber so interessant.
Klaus Baumgartner, Leiter Entwicklung von Sicherheits- und Leitsystemen im Bereich der Zutrittskontrolle, Einbruchmeldetechnik und Videoüberwachung bei der Siemens Building Technologies in Deutschland, ist Diplom-Ingenieur und seit über 20 Jahren im Bereich der Softwareentwicklung in verschiedenen Rollen tätig. Foto: Mathis
Steffen Wagner, Leiter Forschung und Entwicklung bei der Siemens AG für Kraftwerksleittech-nik, ist diplomierter Betriebswirt und Elektrotechniker. Er beschäftigt sich seit mehr als 15 Jahren mit Software- und Systementwicklung und ist Mitglied des Siemens Software Strategy Boards. Foto: Mathis
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