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  • Susann Mathis

Maschinen mit Fantasie

Aktualisiert: 5. Jan. 2023

Wir nutzen künstliche Intelligenz (KI) ständig an unseren Schreibtischen: Wir lassen Texte automatisch übersetzen und müssen nur noch wenig verfeinern. Interviews werden automatisch transkribiert, die falsch verstandenen Wörter werden immer weniger. Unsere Texte schreiben wir noch selber, doch wie lange noch?


Mit sogenanntem Roboter-Journalismus werden heute Wirtschafts- oder Sportmeldungen und Wahlergebnisse erstellt, etwa wenn die Zielgruppe zu klein ist, um jemanden aus der Redaktion zu bemühen. Solche Textautomatisierungen sind auch gut geeignet, um große Datenmengen zu verarbeiten, zum Beispiel die Feinstaubradare der Stuttgarter Nachrichten für alle Stadtbezirke und die umliegenden Kreise. Die Redaktion nutzt dafür die Technologie von Ax Semantics. Das Stuttgarter Unternehmen bietet eine KI-gestützte Plattform zur automatisierten Texterstellung.

Ansonsten wird KI im Journalismus weniger für Texte eingesetzt. Eher bekannt sind Anwendungen wie der Corona-Bot-Service der BBC: Der Chat-Bot hat Fragen zu Corona-Regeln beantwortet. Enthüllungen wie die Panama-Papers oder Open Lux gelingen nur mit spezialisierten Programmen, die auf intelligente Weise enorme Datenpakete durchsuchen. KI spielt aber auch eine zentrale Rolle, um Inhalte auf die Interessen und Bedürfnisse der User zuzuschneiden. Eine KI erkennt potenzielle Abonnent*innen und macht ihnen die passenden Angebote. Gleichzeitig gibt es heute immer mehr Apps, die Blog-Beiträge, Social-Media-Inhalte, E-Mails und Ähnliches erstellen können.

Da stellt sich doch die Frage, ob solche Anwendungen auch einer müden Journalistin helfen können, die kurz vor Redaktionsschluss noch viel Arbeit zu bewältigen hat.

Ein Test:

Probieren wir es aus. Um einen Abschnitt über „KI im Journalismus“ zu schreiben, füttere ich zunächst App RYTR mit den Stichworten „Urteilsvermögen, Demokratie, Akkuratesse, Authentizität, Ausgewogenheit, Aktualität, Fairness, Schreiben, Recherchieren“.

RYTR (ausgesprochen klingt das wie „Writer“) formuliert daraus drei verschiedene Abschnitte mit durchaus lesbarem Text und unterschiedlichen Positionen. Doch im Text wird vor allem geraunt, es dominieren Formulierungen wie „kann verwendet werden“, „hat sich gezeigt“, „einige Leute befürchten“, „andere glauben“ „ist ein umstrittenes Thema“ ... Journalistischen Ansprüchen kann der Text nicht genügen, aber das behauptet das Tool auch an keiner Stelle. Doch RYTR produziert zuverlässig Text, der die geforderten Keywords listet, so dass sie bei einer Google Recherche auftauchen.

Aus Hamburg kommt die App Neuroflash. Sie bekommt die gleichen Vorgaben, recherchiert dazu aber viel mehr Fakten und schreibt anspruchsvolleren Text. Außerdem interpretiert die App den Horizont der Anfrage weiter. Im Text stehen dann Sätze wie etwa „Allerdings sollte KI nicht als Ersatz für das Urteilsvermögen und die Recherchekompetenz von Journalisten betrachtet werden. Vielmehr kann KI Journalist*innen dabei unterstützen, ihre Arbeit noch effektiver und qualitativ hochwertiger zu gestalten.“

In einem zweiten Abschnitt macht die App weitere Vorschläge, eine Formulierung lautet: „Eines der wichtigsten Anwendungsgebiete von KI im Journalismus ist die Recherche. Durch die Verknüpfung von großen Datenmengen und künstlicher Intelligenz können Journalisten schneller und effektiver recherchieren. So können zum Beispiel bestimmte Themen oder Schlüsselwörter automatisch recherchiert und relevante Informationen angezeigt werden. Auch die Überwachung von öffentlichen Stellen und Unternehmen kann durch KI erleichtert werden. So können beispielsweise bestimmte Dokumente oder Mitteilungen automatisch gesucht und an die Journalisten weitergeleitet werden.“

In den Formulierungen bleibt auch diese App schwammig. Auch deren Ergebnisse wären nicht für einen journalistischen Artikel zu verwenden, jedoch recherchiert die App zu den Keywords eine Vielzahl von Anregungen für präzise benannte weitere Aspekte, das ist durchaus inspirierend. Auch wenn hier schon mehr Substanz geliefert wird, möchte ich zusätzlich einen lebendigen Einstieg. Warum also nicht mit Hilfe eines textbasierten Abenteuerspiels virtuell in eine Reportage einsteigen? AI Dungeon zum Beispiel ist so ein Spiel, das künstliche Intelligenz nutzt.

Welcome to AI Dungeon

Die Software arbeitet auf Englisch und bietet verschiedene Welten an, ich versuche es mit einem plumpen, aber ehrlichen und einfach formulierten Einstieg, ich schreibe:

- Ich bin Journalistin und arbeite in Stuttgart, Deutschland. Es war ein langer Tag und ich bin müde, aber ich muss weiterarbeiten. Ich muss noch ein paar Interviews führen, dann zurück in die Redaktion gehen und zwei weitere Artikel schreiben.

- Die KI antwortet: "Wow, das ist eine Menge. Wie schaffst du das jeden Tag?"

Das ist nett, hilft aber nichts. Im Dialogmodus insistiere ich, dass ich Hilfe brauche. Schließlich erbarmt sich Dungeon. Die Personen wechseln, egal, ich konzentriere mich auf die Handlung. Auf dem Bildschirm erscheinen folgende Zeilen:

„Der Mann scheint darüber nachzudenken, was Sie sagen. "OK, ich mache es, aber Sie müssen mich bezahlen." "Wie viel pro Artikel?"

Gute Frage, die die KI selbständig in den Dialog eingebaut hat. Was wäre ich bereit, zu zahlen? Ich schreibe "50 Euro pro Monat", da Volumina in dieser Größenordnung bei den verschiedenen Anwendungen existieren. Die KI erwidert: "OK, abgemacht! Du kannst sofort anfangen. Du musst recherchieren und die Artikel schreiben, ich schicke dir die Informationen, du musst sie nur noch in den Artikel einfügen."

Ich erschrecke und versuche, zu korrigieren, ich präzisiere: "Du musst die Artikel selbst schreiben. Ich gebe dir nur das Thema, du musst recherchieren und schreiben." Die KI schreibt den Plot jedoch folgendermaßen weiter: „Der Mann wird richtig wütend und fängt an, Sie anzuschreien.“

Das sieht nicht nach Unterstützung aus.


GPT-3 formuliert Antworten und Code

Grundlage für viele Apps und Tools ist GPT-3, der Generative Pre-trained Transformer der 3ten Generation. Dabei handelt es sich um ein Sprachvorhersagemodell. Das neuronale Netzwerkmodell ist darauf trainiert, mithilfe der unendlichen Mengen an online verfügbarem Text nach Mustern zu suchen und diese anzuwenden, um die wahrscheinlichste Ausgabe zu generieren. Dazu verwendet es maschinelles Lernen. So entsteht Text, der dem von Menschen geschriebenen gleicht.

GPT-3 kann zum Beispiel Chatbots unterstützen, um Kundenfragen zu beantworten. Es kann die Unterhaltungen auch direkt übersetzen und mit Benutzern in deren bevorzugter Sprache kommunizieren. Es kann aber auch automatisch Textzusammenfassungen oder Programmcode erzeugen. Auf Fragen kann man kreative Antworten erhalten – zum Beispiel für Überschriften – allerdings ist immer ein sorgfältiges Lektorat erforderlich: Die GPT-Technologie wählt passende Wörter mit statistischen Methoden aus und setzt sie in den Kontext eines Satzes ein. Dabei werden manche Fakten werden frei erfunden und man beobachtet mit Staunen eine überaus erfolgreiche Fake News Schleuder:

Verstörend realistische Fantasien einer Maschine

Eine der GPT-3-Anwendungen antwortet zum Beispiel ausufernd auf die Frage, wie man den 120. Geburtstag von Clara Menck begehen könnte. Sie liefert Ideen, die verstörend realistisch klingen und doch gar nichts mit der Realität zu tun haben. Die Vorschläge reichen von der „Neuauflage ihrer Memoiren“ (nie erschienen), einem „Nachdruck des Buches "Mein Leben mit Clara" von Mencks Ehemann, dem 1951 verstorbenen Schriftsteller und Herausgeber Richard Menck“ (ihr Mann hieß Hans Menck und sie ließen sich früh wieder scheiden) bis zu einem „Festival, das sich mit ihrem Leben und Werk beschäftigt. Es trägt den Titel "Blickwechsel: Über Clara Menck – eine Auswahl ihrer Texte" und findet angeblich in der Aula der Saarländischen Landesmedienanstalt statt (hat in Wirklichkeit natürlich nie stattgefunden). Damit nicht genug. Ein „Bert Åke Persson“ schreibt angeblich über Menck: „Sie war eine begabte Schriftstellerin, die gut erzählen konnte und ein reporterisches Gespür für die Worte eines Informanten hatte“. (Bert Åke Perssons gibt es einige, aber keiner schreibt über Clara Menck). Bei einem „Future Media Festival 2018 zeigten zwölf Nachwuchsregisseurinnen und -regisseure im Alter von 45 Jahren und jünger jeweils einen 7-minütigen Kurzfilm über Clara Menck und was sie fasziniert hat“. (reine Software-Fantasie). Der fünfte Versuch mit der Software liefert schließlich eine Meisterleistung der Imagination: „Ihr Lebenswerk hat sie 1999 in das Archiv von woman&work Zentrum Feministischer Archivarbeit e.V. verlegt. Die Mitglieder des Frauen*Archivvereins beschlossen, ihre Arbeit mit einer Tagung zu würdigen. Die Tagung fand am 9. Juni 2017 in Frankfurt am Main statt und wurde vom women*work Zentrum Feministischer Archivarbeit e.V. und den Hochschulen Justus-Liebig-Universität Gießen und Frankfurt University of Applied...“ Hier hört es auf. Die Beispiele klingen ausgelassen, gerade so, als ob die Software unbändigen Spaß am Erfinden hätte.

Die Alternative kommt aus Heidelberg

Seit das Sprachmodell GPT-3 allgemein zugänglich ist, entstehen immer mehr neue Apps und helfen beim Texten und Codieren. GPT-3 ist das Sprachmodell von openAI. OpenAI wurde ursprünglich, unter anderem von Elon Musk, als gemeinnützige Organisation gegründet mit dem Ziel, den Zugang zu moderner künstlicher Intelligenz zu demokratisieren. Inzwischen ist Microsoft deren größter Investor und bevorzugter Partner bei der Sprach-KI. Beim jüngsten Modell GPT-3 kann man den Quellcode nun nicht mehr herunterladen.

Jonas Andrulis, selbst lange Jahre bei Apple in der KI beschäftigt, möchte verhindern, dass die gesamte Kompetenz und Wertschöpfung in den USA gebündelt werden, aus wirtschaftlichen und aus kulturellen Gründen. In Heidelberg hat Andrulis daher Aleph Alpha gegründet, er will damit eine europäische Alternative zu OpenAI schaffen und damit „Modelle, die sicher, transparent und fair gestaltet sind und in Übereinstimmung mit unseren gesellschaftlichen Werten stehen“. Dafür erhält er viel Zuspruch – auch in Form von Venture Capital.

Sprache ist die Basis für alles

Jeder Bereich nutzt sprachliche Information, zum Beispiel E-Mails, technische Dokumente, Chats oder Verträge. Jeder Bereich wird durch diese GPT-3 und ähnliche Technologien transformiert werden. Jede in Sprache formulierte Aufgabe, jede Herausforderung, die man mit Sprache ausdrücken kann, kann man diesem Modell zur Lösung oder auch Unterstützung zu geben. Aktuelle KI-Algorithmen können lange Dokumente, zum Beispiel komplexe Verträge samt ihren Anhängen, auslesen und verstehen. Sie können Zusammenfassungen erstellen. Kein Mensch mehr muss tagelang Akten studieren, wenn man einfach der Software spezifischen Fachfragen stellen kann, etwa an welchen Stellen des Dokuments umweltrechtliche Aspekte berührt werden. Was bislang eines oder einer Rechtsanwält*in bedurfte, kann nun in Windeseile von einer KI-Assistenz erzeugt werden. Dabei macht die Heidelberger Software nicht bei deutschen Texten Halt. Aktuell arbeitet sie in fünf Sprachen und kann neben Texten auch Bilder analysieren.

Nicht nur in Kanzleien, auch in Redaktionen können künftig noch viel mehr Aufgaben von Software übernommen werden, als wir es uns bislang vorstellen können. Wie hätte Clara Menck darüber gedacht? Eine moderne KI würde darüber nicht lange rätseln. Sie würde sich die verfügbaren Texte von ihr vornehmen, würde ihre Haltung gegenüber dem Neuen analysieren, würde dabei vielleicht über eine Bemerkung zum Thema Kreativität stolpern und wissen, dass das ein wichtiger Aspekt ist. Sie würde eine Position formulieren und könnte zwischen der jungen und der weniger jungen Clara Menck unterscheiden: Die junge brauchte viele Zigaretten, um zu schreiben, die ältere rauchte nicht mehr. Das zumindest hätte sie mit einem Algorithmus gemeinsam.










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