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Susann Mathis

Forschungsreise

Aktualisiert: 18. Jan.

In 'Forschungsreise' begleiten wir Elena, eine ambitionierte Virologin, auf einer anspruchsvollen Reise in die Welt der Wissenschaft und persönlicher Herausforderungen. Elena bewirbt sich im Jahr 2019 für einen Forschungsaufenthalt in Wuhan, China. Trotz der Skepsis ihrer Chefin Jasmin und der Warnungen ihrer Freundin Anoush ist Elena von ihrem Vorhaben überzeugt.

Sie navigiert durch ein Netz aus wissenschaftlicher Neugier, ethischen Fragen und persönlichen Beziehungen. Ihre Gespräche mit ihrem Freund Christopher und ihrer Freundin und Mitbewohnerin Anoush beleuchten die komplexen Facetten der Virologie und Biotechnologie. Der Winter 2019/2020 bringt die Spannungen zwischen beruflichen Ambitionen und privatem Leben zum Vorschein.

Der Roman lotet die Grenzen zwischen Wissenschaft und persönlichem Leben sowie zwischen Wahrheit und Täuschung aus. 'Forschungsreise' beleuchtet mit klarer und prägnanter Sprache die Herausforderungen und Verantwortlichkeiten, die mit wissenschaftlicher Forschung einhergehen.

Elena äußert sich selbst auf ihrem Instagram-Profil, sie hat sich dort den Namen @virolene gegeben:



Hier kann man die ersten Seiten lesen:

Kapitel Eins


„Ein Element des Erfolges, egal in welchem Beruf, ist die Lust am Handwerk.“ Irène Joliot Curie (Physikerin und Chemikerin)


Die Schlaglochpiste ist eine Zumutung im Sommer und eine Katastrophe im Winter - heute ist ein regnerischer Septembertag, also irgendetwas dazwischen. Vorsichtig lenkt Elena den Wagen über die holprige Straße, die das Festland mit dem Sperrgebiet verbindet.

Riems ist eine Insel, gerade mal zwanzig Kilometer von Elenas Zuhause in Greifswald entfernt. Es wäre eine schöne Fahrradstrecke, perfekt für ein tägliches Training, aber der Wind an der Küste ist oft zu stark und so nimmt Elena meist den alten Polo, den ihre Tante schon verschrotten wollte.

Sie weiß, dass sie nicht besonders gut fährt. Es fehlt ihr an erfahrenen Kilometern, so sagt das jedenfalls ihr Vater. Sie muss sich konzentrieren wie eine Anfängerin. Mit gerunzelter Stirn schaut sie auf die Straße, kurz blendet ein Sonnenstrahl, dann ist die Straße wieder dunkel und grau.

Die schnellen Scheibenwischer und das unregelmäßige Holpern von Schlagloch zu Schlagloch strapazieren Elenas Nerven. Trotzdem wandern ihre Gedanken zu ihrer Bewerbung: Sie will, möglichst noch 2019, nach China. Sie hat einen Aufenthalt als Gastwissenschaftlerin beantragt und wartet auf die Bestätigung durch den Deutschen Akademischen Austauschdienst. Ihre Unterlagen sind mustergültig, ihr Vorhaben ist logisch und durchdacht, nun müssen nur noch die Chinesen zustimmen. „Wuhan“, „Wuhan“, „Wuhan“ skandieren die Scheibenwischer, während sie durch den Regen rumpelt.

Elena ist neunundzwanzig. Ein durchschnittliches Alter für eine Promotion, sie war im Studium weder besonders schnell noch auffallend langsam. Dennoch empfindet sie Zeitdruck. Neunundzwanzig ist nicht nur ein akzeptables Alter für eine Promotion, sondern auch für alles andere im Leben. "In jedem Fall habe ich keine Zeit zu verlieren", denkt sie und beschleunigt unwillkürlich den kleinen Wagen.

Als ihre Fahrt auf der Seucheninsel Riems endet, hat auch der Regen aufgehört. In der Forschungsanstalt werden seit über hundert Jahren Tierseuchen untersucht. Das Institut ist inzwischen so groß, dass es fast die gesamte Insel einnimmt. Bis zum Parkplatz noch kommen auch Fremde, ohne auf wesentliche Hindernisse zu stoßen, danach ist der Zutritt für Unbefugte strengstens verboten. Das eigentliche Forschungsgelände ist durch meterhohe Zäune und Stacheldraht von der Außenwelt abgeschottet, Videokameras und Radaranlagen überwachen die Umgebung, denn in einigen der Labors wird an tödlichen Erregern geforscht.

Elena genießt kurz die Stille, schließt den Wagen ab und geht zum Eingang. Vorsichtig vermeidet sie, mit ihren Sneakers in eine Pfütze zu treten. Der Wind presst ihr eine Strähne ihrer dunkelbraunen Haare ins Gesicht. Sie streift das Haargummi vom Handgelenk und bindet sich einen Pferdeschwanz. Danach setzt sie die Kapuze auf und hält sie unter dem Kinn fest.

Elena ist groß und schlank. Ihre Haare sind glatt und etwas mehr als schulterlang. Sie trägt eine Jeans, dazu T-Shirt, Kapuzenpulli und darüber eine leichte, graue Regenjacke. Ihr gefällt der klassische Stil, nichts läge ihr ferner, als wegen ihrer Kleidung aufzufallen.

An der Sicherheitsschleuse wird wie jeden Tag ihr Ausweis geprüft, erst dann darf sie das Areal betreten. Das hohe Drehkreuz erinnert sie zuverlässig an das Schwimmbad ihrer Kindheit, an die Rufe, das Lachen, die Platscher und den Geruch nach Chlorwasser und nach Sonnenmilch. Und wie schon damals vermeidet sie sorgfältig, die Holme der Sperre zu berühren. Als sie ein Kind war, war es die Angst, sich die Finger einzuklemmen, hier ist ihr die Berührung des kalten Edelstahls unangenehm.

Sie bringt das Tor durch den Druck ihrer Schulter in Drehung und eilt mit ihren neuen, immer noch optimistisch weißen Sneakers weiter, hinauf zu ihrem Arbeitsplatz. Der Flur auf ihrem Stockwerk ist menschenleer, den typischen Laborgeruch dominiert eine helle Schwefelnote.

Auf ihrem Weg sieht Elena wieder auf die Wolken, ihre vom Wind lang gezogenen Formen. In der Stadt vergehen trostlose Herbstwochen unter einem gleichförmigen Hochnebel. Doch hier, an der Küste, ist der Himmel immer in Bewegung, er jagt Wolken über den Horizont und spiegelt sich in der Ostsee. Er bringt Regen, fegt ihn aber auch schnell wieder weg. Elena wird langsamer, die Wolkenformen ziehen sie in ihren Bann, bis unvermittelt ihre Chefin am Ende des Flurs auftaucht.

Jasmin sieht jünger aus als ihre Ende dreißig. Unter ihrem Kittel trägt sie eine Bundfaltenhose in der Farbe von Strandhafer. Mit ihren weißen Blusen, den gestärkten Laborkitteln und eleganten Stoffhosen hat Jasmin immer etwas Makelloses an sich. Auffallend sind ihre Nasenlöcher: Sie sind hoch geschnitten und lassen die perfekte kleine Nase etwas neugierig aussehen.

Elena will mit einem Guten-Morgen-Gruß weiter. Sie rechnet nicht damit, dass sie aufgehalten wird, denn Jasmin macht sich immer rar. Da hört sie sie fragen:

„Eleeena, hast du schon was von deiner China-Bewerbung gehört?“

Immer betont Jasmin ihren Namen falsch, zieht die zweite Silbe, als würde sie heißen wie die fromme Helene. Elena zuckt mit den Schultern.

„Nein, das wäre aber auch zu schnell.“ Sie steckt die Hände in die Taschen und betrachtet Jasmins rosige Haut, die Augen mit den hellen Wimpern, den glänzenden Pony und wundert sich. Auch nach all der Zeit der gemeinsamen Arbeit gibt es an Jasmin nichts, was ihr ein vertrautes Gefühl vermittelte. Seit zwei Jahren ist Jasmin ihre wichtigste Ansprechpartnerin, aber ihre Besprechungen und auch ihre gelegentlichen gemeinsamen Mahlzeiten haben nicht dazu geführt, dass sie eine persönliche Beziehung aufgebaut hätten. Im Labor kennt Elena niemanden, der einen freundschaftlichen Kontakt zu Jasmin hat.

Jasmin hebt ihr Kinn etwas und sagt: „Du weißt ja, dass ich davon nicht begeistert bin, dass du uns mehrere Wochen verlassen willst.“

Als Elena darauf nicht gleich antwortet, fügt sie an: „Vielleicht bekommst du ja gar keine Zusage.“ Jasmin versucht, es wie einen Scherz klingen zu lassen. Ihr Standard-Gesichtsausdruck ist streng, sie verlässt sich gern auf die Autorität ihrer hochgezogenen Augenbrauen. Die kollidieren jetzt mit dem aufgesetzten Grinsen.

Elena will an das Wuhan Institute of Virology (WIV). Dort erforscht man Viren, insbesondere Viren von Feldermäusen, und deren Übertragung auf Menschen. Es geht darum, herauszufinden, wie diese Viren auf Menschen überspringen können und so Krankheitsausbrüche zu verhindern. Das WIV ist weltweit bekannt für seine Forschung zur Virologie und veröffentlicht ihre Ergebnisse in wissenschaftlichen Zeitschriften. Elena findet vor allem die Forscherin Shi Zhengli beeindruckend, die dort arbeitet und hartnäckig an diesem Thema forscht.

Elena antwortet immer noch nicht. Natürlich weiß sie, dass ihre Chefin von ihrer Bewerbung in Wuhan nicht angetan ist. Jasmin muss an jedem Tag, den Elena nicht im Labor verbringt, auf eine günstige und ehrgeizige Arbeitskraft verzichten. Jasmin spricht Elenas Gedanken laut aus, aber sie formuliert ihn wie eine Mahnung:

„Du weißt auch, dass du deine Aufgaben im Labor nicht vernachlässigen darfst.“

„Nein, gewiss nicht“, antwortet Elena ausdruckslos. Mechanisch. Um glaubwürdig zu sein, hätte sie ihre Versicherung etwas leidenschaftlicher vorbringen müssen.

„Im schlimmsten Fall verlierst du Monate bei deiner Doktorarbeit“, versucht Jasmin, den Druck zu erhöhen. Sie argumentiert gerade so, als ob sie das erste Mal darüber reden würden. Was erwartete Jasmin? Dachte sie etwa, dass Elena jetzt sagte: ‚Oh, nein, das wusste ich nicht. Selbstverständlich blase ich die Bewerbung sofort ab!‘ Während sie noch überlegt, woher der Ausdruck „etwas abblasen“ überhaupt stammt, vielleicht aus der Jagd, gibt sie, etwas unkonzentriert, ihrem Reflex nach, zum Gegenangriff überzugehen. Sie stehen mitten auf dem Flur, es ist immer noch niemand zu sehen, einige Türen sind geöffnet, aber Elena ist es für den kurzen Moment sowieso egal, ob jemand zuhört. Sie fragt:

„Du hast China nie besucht, oder?“

„Nein, ich habe meinen Postdoc in den USA gemacht, das weißt du doch“, antwortet Jasmin und hebt dabei ihr Kinn wieder leicht an.

Elena wägt ihre Erwiderung ab, nickt kurz. Sie selbst war während ihres Studiums in Barcelona, in Washington und in Lyon. Das ist außergewöhnlich, das weiß sie nur zu gut. Es ist riskant, Jasmin darauf hinzuweisen, dass sie schon mehr Labore der Welt gesehen hat, aber sie kann nicht widerstehen. Sie schaut aus dem Fenster, sagt scheinbar leichthin:

„In den USA war ich ja schon für meinen Bachelor. Aber Wuhan ist auch inhaltlich interessant, ihre Virensammlung fasziniert mich und ich möchte die Forschung in einem anderen Teil der Welt sehen, bevor ich meine Promotion abschließe.“

Jasmin senkt ihr Kinn wieder und lächelt andeutungsweise. Sie ist nicht naiv, hat die Spitze erkannt und verlegt die Plänkelei auf ein anderes Terrain:

„Aber wieso interessiert dich das denn so?“ entgegnet sie und fährt gleich fort: „Willst du denn überhaupt in der Forschung bleiben?“ Sie lässt ihre Frage übertrieben erstaunt klingen.

„Ich weiß noch nicht“, erwidert Elena zögerlich, wobei sie wieder ausdruckslos vor sich hinstarrt, dabei stimmt das überhaupt nicht. Sie weiß schon seit ihrer Teenagerzeit, dass sie forschen will, um Krankheiten zu bekämpfen. Auch Jasmin weiß ganz genau, dass Elena in der Forschung arbeiten will. Aber diese scheinbar ahnungslose Rückfrage ist kein schlechter Schachzug, das muss Elena zugeben.

„Na siehst du,“ fährt Jasmin während Elenas Zögern fort, „du weißt ja noch gar nicht, wo es hingehen soll, und lenkst dich nur ab. Du kannst dir das mit China immer noch mal überlegen.“

Elena sagt darauf nichts mehr. Jetzt nicht übertreiben. Höflich nickend lächelt sie und wechselt das Thema: „Jasmin, hast du eigentlich schon darüber nachgedacht: Wir hatten dich doch gebeten, einen größeren Proben-Kühlschrank für unser Team zu beantragen?“

Jasmin wendet sich schon zum Gehen, während sie den Kopf schüttelt. „Ihr müsst ein bisschen disziplinierter aufräumen“, sagt sie, „an der Größe eures Kühlschranks liegt es nicht.“ Damit verschwindet sie um die Ecke.

In der Sicherheitsstufe zwei arbeitet man ausschließlich mit abgetöteten Viren. Diese können Menschen nicht gefährlich werden, daher sind auch die Sicherheitsanforderungen nicht besonders hoch. Elena holt einen frischen Kittel aus dem Schrank und tauscht die Sneakers gegen ihre Laborschlappen. Aus dem Kühlschrank nimmt sie die Gehirnproben eines der Tollwut verdächtigen Fuchses, die sie heute analysieren will.

An ihrem Arbeitsplatz zieht sie Einmal-Handschuhe über und nimmt das Gewebe mit unter den Glasschutz. Sie wiegt zehn Milligramm leichte Stückchen ab und gibt sie in Mikroreaktionsgefäße der Firma Eppendorf, die „Eppis“.

Sie sieht kurz auf und grüßt, als Dennis hereinkommt. Er hat sich die Schutzbrille in die Locken geschoben und wünscht ihr einen guten Morgen. Dennis ist etwa so alt wie sie selbst, er hat dunkles Haar, ist etwas größer als Elena und so dünn, dass es fast schon beunruhigend ist. Sie beide verstehen sich gut. Von allen aus dem Team ist er der Umgänglichste. Und er ist gut und mindestens so ehrgeizig wie sie selbst. Dennis sieht auf ihren Tisch und fragt:

„Gibts heute Hirn?“

„Yep!“ antwortet Elena, ohne den Kopf zu heben. Sie dreht den Pipettenhalter-Regler, um genau 250 Mikroliter des rosa TRIzols aufzunehmen. Dieses Reagenz ist für den markanten, stechenden Geruch verantwortlich, der in Labors auf der ganzen Welt zu finden ist. Es wird verwendet, um Nukleinsäuren, also die Erbinformation DNA oder RNA, aus Zellen zu extrahieren.

Dennis lenkt ihre Aufmerksamkeit von der unerfreulichen Begegnung mit Jasmin ab. Ablenkung ist genau das, was sie jetzt braucht. Darum ruft sie in seine Richtung:

„Wenn dich jemand nach einer typischen Handbewegung in deinem Beruf fragen würde, was würdest du wählen?“ Und ohne auf seine Antwort zu warten, fährt sie fort: „Ich würde das Pipettieren nehmen.“

Elena sieht auf ihren rechten Daumen, der den Pipettierknopf bis zum ersten Druckpunkt schiebt. Sie hält ihn in dieser Position, während sie die Pipette in das TRIzol taucht. Sie achtet darauf, dass die Pipette währenddessen senkrecht steht. So kann sie sicherstellen, dass die vollen 250 Mikroliter Flüssigkeit ohne Luftblasen angesaugt werden. Während sie den Knopf langsam loslässt, steigt die Lösung in die Pipette. Nachdenklich sagt sie:

„Wenn man keine Ahnung hat, was ich in der Hand halte, könnte man annehmen, es sei ein Kuli und ich wüsste nicht, was ich schreiben soll.“

Sie sagt das nicht besonders laut, weiß nicht, ob Dennis sie überhaupt hören kann, es ist auch nicht wichtig.

Langsam und gleichmäßig schiebt sie den Pipettierknopf bis zum zweiten Druckpunkt. Damit gibt sie das TRIzol über der ersten Probe ab. Diese Schritte wiederholt sie, bis sie zu jeder der winzigen Hirnproben die genau abgemessene Menge Flüssigkeit pipettiert hat. Den letzten Tropfen der Pipette streift sie jeweils an der Wand des Gefäßes ab. Sie darf die Spitze dabei nicht in die Flüssigkeit tauchen, um nichts zu verfälschen. Zittern darf man bei dieser Arbeit nicht.

„Man könnte auch denken, dass du im Zoo mit einem Klickzähler Schildkröteneier kontrollierst.“

Dennis steht schräg hinter ihr, als er das sagt. Sie hat ihn nicht kommen gehört. Sie überlegt einen Moment, während sie sich auf ihre Finger konzentriert.

„Stimmt. Oder ich zähle jedes Mal, wenn Jasmin ihre Augenbrauen sinken lässt“, sagt sie und denkt, dass ihre Gedanken also doch wieder bei Jasmin gelandet sind.

Dennis lacht. „Da hast du nicht viel zu tun“, erwidert er.

Elena wartet einen Augenblick, ob er das noch ausschmückt, doch er ist schon weitergegangen.

Ihre Handgriffe sind die gleichen wie in Tausenden anderen Laboren weltweit. Die einmal benutzte Pipettenspitze löst sie ab — wieder mit einem Druck des rechten Daumens auf den Knopf, diesmal ganz hinunter bis zum dritten Druckpunkt. Sie lässt sie in den kleinen Tisch-Abfalleimer gleiten. Den Müllbeutel wird sie später fachgerecht entsorgen. Nach jedem Arbeitstag eine Tüte Plastikmüll. Immer schlimm anzusehen. Doch es wäre eine viel größere Belastung für die Umwelt, würde man die Spitzen ausspülen und anschließend das Spülwasser dekontaminieren.

Mit einem winzigen Stößel homogenisiert sie das Gemisch aus Gewebe und TRIzol. Die Eppis platziert sie in einer Tischzentrifuge, die etwa so groß wie ein Eierkocher ist. Darin kann sie zwölf Mini-Portionen auf einmal zentrifugieren.

Nebenan hat Dennis die große Ultrazentrifuge bestückt, man hört das Schließen der Abdeckung. Ein Piepen signalisiert, dass er Temperatur und Geschwindigkeit einstellt. Der Motor startet. Viel mehr als ein durchdringendes Sirren ist davon nicht zu bemerken. Es ist angenehm, dass noch jemand in der Nähe arbeitet. Es verbessert ihre Konzentration, wenn sie sich nicht alleine fühlt, sondern als Teil einer geschäftigen Einheit.


Elena erforscht Tollwutviren. Das ist ein wichtiger Grund, warum sie nach Wuhan will. Sie verspricht sich viel von der riesigen Virensammlung dort und von der Erfahrung des Teams mit den unterschiedlichen Viren. Gemeinhin wird angenommen, die Tollwut sei weitgehend ausgerottet. Aber weltweit sterben immer noch um die 60.000 Menschen pro Jahr an dem Virus. Manche von ihnen entwickeln eine Hydrophobie, das bedeutet, dass sie kein Wasser mehr zu sich nehmen können. Dadurch wird die Virenkonzentration im Speichel extrem erhöht, was clever vom Virus ist, weil es so viel schneller die Regie übernehmen kann. Wobei Elena solche Formulierungen wie „clever“ für ein Virus verachtet. Sie hält nichts davon, Krankheitserregern oder auch Tieren menschliche Eigenschaften zuzuschreiben - eine alberne Art, die Welt zu verniedlichen.

"Viren können nicht clever sein", denkt sie, "sie haben kein Gehirn, sie sind keine eigenständigen Lebewesen. Viren bestehen aus Erbgut-Molekülen, die von einer Eiweißhülle umgeben sind. Basta. Anders als Bakterien können Viren auch nicht alleine überleben. Um sich zu vermehren, brauchen sie die Hilfe von außen, zum Beispiel von menschlichen Körperzellen. Sobald die infiziert sind, übernehmen sie die Produktion der Viren. Durch die Wasserphobie wird der Prozess noch effizienter: Je weniger Wasser jemand trinkt, desto höher die Virenkonzentration in seinem Körper und desto schneller können die Viren die Macht übernehmen. Wobei das natürlich sträflich vereinfacht ist, aber gerade noch so tolerierbar."

Elena erinnert sich, wie sie das mal bei einem Berufsinformationstag für Mädchen erklären wollte. Sie hatte sich vorgenommen, lächerliche Bezüge auf menschliches Verhalten strikt zu vermeiden. Als sie aber vor den Schülerinnen stand, ist sie mit ihrem Vorsatz gescheitert. Es war schwierig genug, die Aufmerksamkeit der Teenager zu bekommen. Es war nicht so, dass die Mädchen etwas anderes gemacht hätten, ins Smartphone geschaut oder gequatscht — nein, sie hatte sie schlicht nicht erreicht. Sie reagierten nicht, gingen nicht mit. Also hatte Elena die Viren als blutrünstige Angreifer geschildert, die rücksichtslos und brutal alles niedermetzelten, was sich ihnen in den Weg stellte. Das Immunsystem des Körpers wurde in ihrer Erzählung zu einer furchtlosen Ritterschar. Eine Leibgarde, die Abwehrstoffe bildete, um Krankheitserreger unschädlich zu machen. Da sah sie allmählich etwas Leben in den Augen der Mädchen aufblitzen. Daraufhin hat sie ihre Geschichte weiter ausgeschmückt, hat der Leibgarde eine Geheimpolizei an die Seite gestellt, die sich genau merkt, mit welchen Erregern sie bereits in Kontakt waren und wie sie mit ihnen fertig werden konnten. Dass man dann gegen weitere Angriffe des Virus immun ist. Und dass so oder so ähnlich die meisten Impfungen funktionierten. Damit hat sie sich danach getröstet: Vielleicht hatte sie wenigsten gute Werbung für Impfungen gemacht.

Im Grunde hat es ihr sogar Spaß gemacht - später hat sich dafür geschämt. Doch es war unwiderstehlich gewesen, als die Mädchen ihr gebannt zugehört haben und sie hat ihnen ausgemalt, dass die gefährlichsten Viren von Fledermäusen kommen. Dass diese haarigen Tierchen mit den spitzen Zähnen kopfüber dicht an dicht gedrängt in dunklen Höhlen leben, dass sie so eng aufeinandersitzen, dass ihr Immunsystem phänomenal ist, sie niemals selber erkranken, während sie die Erreger für Seuchen wie Tollwut, Ebola oder SARS beherbergen.

Dabei mochte sie Fledermäuse. Im Haus ihrer Eltern waren es die Fledermäuse, die zu ihrer Erleichterung allein wieder herausfanden, wenn sie versehentlich durch ein offenes Fenster ins Wohnzimmer geflogen waren. Ganz anders als die Vögel, die sich panisch unter Sesseln versteckten und hektisch flatternd auf den Fernseher kackten, bevor Elena sie, selber genauso aufgeregt wie die kleinen Tiere, aus einem Fenster oder einer Tür lotsen konnte.

Elena steht auf und bereitet sich auf die nächsten Arbeitsschritte vor. Beim Zentrifugieren der Proben setzt sich am Boden ein festes Pellet ab, das wird entsorgt. Die wichtigen Informationen, die Nukleinsäuren, sind in der wässrigen Phase darüber gelöst. Beim Zentrifugieren erinnert sich Elena jedes Mal an die gleiche peinliche Situation: Inzwischen war es über ein Jahr her, sie war zerstreut gewesen, dabei war es passiert. Sie hatte die Flüssigkeit in den Tischmüll geleert und dann perplex auf den nutzlosen Bodensatz im Röhrchen gestarrt.

Die Ultrazentrifuge im Nebenraum stoppt und Elena lehnt sich etwas zurück, um zu schauen, ob Dennis wieder in ihre Richtung kommt. Sie möchte das Ablenkungsspiel noch etwas fortsetzen.

„Dennis“ ruft sie, „beschreib deine Arbeit, ohne die Worte Viren, Keime, Biologie und Labor zu verwenden. Was würdest du sagen?“

Dennis kommt in ihren Raum und sieht sie nachdenklich an. In der Hand hält er einen Streifen der elastischen Folie, mit der sie ihre Probenbehälter abdichten. An seinem Kittel fehlt ein Knopf und am Saum hat er einen graubraunen Fleck.

„Ich rette die Welt und mein Outfit ist nicht blau-rot, sondern strahlend weiß.“ Er reckt die linke Faust wie Superman und blickt mit entschlossen vorgeschobenem Kinn an die Decke. Elena muss lachen, aber sie schüttelt den Kopf und zeigt mit dem Finger auf den Fleck.

„Du musst es mal waschen, dein Superman-Outfit.“

Dennis schaut an sich herunter und streicht seinen Kittel glatt. Dann sagt er trocken:

„Keinesfalls. Das wird noch in der Forschung gebraucht.“


Elena holt eine weitere Probe aus dem etwa eins achtzig hohen Ultra-Tiefkühlschrank. Das ehemals weiße Metall der Tür ist vergilbt, der Lack an der unteren linken Ecke ist abgesplittert. Ihr Fach ist etwa auf Schulterhöhe, ihr Probenkästchen, eine kälteresistente Cryo-Box, steht ganz rechts. Die Innenseite der Tür und die Schubladen sind immer stark vereist, dort kondensiert Luftfeuchtigkeit. Die Temperatur wird bei exakt minus achtzig Grad Celsius gehalten. Man darf die Tür nur kurz öffnen. Andernfalls könnten wegen der steigenden Temperatur Proben gefährdet werden.

Es ist schwierig, schnell zu arbeiten, der Kühlschrank ist viel zu voll. Jasmin hat schon recht, hier lagern auch Proben von Leuten, die schon längst das Institut verlassen haben. Sie hat allerdings noch nie in einem Labor gearbeitet, in dem das anders gewesen wäre. Man müsste mal jede Box herausholen und untersuchen. Aber das kostet viel Zeit, die niemand investieren möchte.

Elena steht vor der Tür des Geräts und konzentriert sich. Sie trägt dicke Handschuhe, denn bei einer Temperatur von minus achtzig Grad Celsius werden die Zellen wie bei einer Verbrennung zerstört. Der Fachbegriff dafür heißt Cryo-Verbrennung. Die Klappe vor ihrem Fach ist stark vereist und klemmt. Mit dem Hebel reißt sie ruckartig den inneren Deckel auf und tastet schnell nach ihrem Probenkästchen. Ist sie zu langsam, geht der Alarm des Temperaturwächters los.

Aber als sie das Kästchen nach außen ziehen will, bleibt ihr Handschuh an einer der anderen Cryo-Boxen hängen und zieht es mit heraus. Einen Schreckmoment lang sieht Elena wie in Zeitlupe dabei zu, wie der Deckel davonschlittert und die Röhrchen auf den Boden fallen. Sie flucht und schlägt die Kühlschranktür zu, während sie in die Hocke geht und schnell die Proben wieder in ihre Box sortiert. ...

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