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  • Susann Mathis

Vertrauen Sie Ihrem Sprachgefühl!

Was die Sprachwissenschaft zur Genderfrage weiß



Die Professorin für Germanistische Linguistik, Helga Kotthoff, ist Sprachwissenschaftlerin. Sie lehrt an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und beschäftigt sich hauptsächlich mit Interaktionsanalyse, Soziolinguistik und interkultureller Kommunikation. Im Blickpunkt-Interview spricht sie über Geschlechtergerechtigkeit und Sprachgefühl in journalistischen Texten.


Susann Mathis (SM): Was genau behandelt die Genderlinguistik? Was ist der Unterschied zur feministischen Linguistik?


Helga Kotthoff: Die Genderlinguistik beschäftigt sich mit allen Bereichen von Sprache und Sprechen, die u.a. auch mit Gender zu tun haben. Sie ist ein Themengebiet innerhalb der Linguistik. Bei allen unseren Gebieten gibt es Überlappungen. Wer etwa über Namen forscht, untersucht auch, ob Namen eine genderisierte Struktur haben. Die feministische Linguistik kam vor ungefähr 40 Jahren auf, und hat viele Fragen nach Sprache und Sprachverhalten von Frauen zum ersten Mal gestellt. Doch ich habe meine Bereiche nie feministische Linguistik genannt, warum auch, das ist zunächst einfach Gesprächsforschung oder Soziolinguistik oder Grammatikforschung. Die Gender-Fragen speisen wir da ein.


SM: Wie schnell ändert sich denn Sprache? Die Rolle der Frau hat sich in den letzten drei Jahrzehnten geändert, schlägt sich das schon in Sprache wieder?

Kotthoff: Erstmals sind das zwei paar Stiefel, Sprache und Sprachverhalten. Sprache ändert sich im Großen und Ganzen langsam, das hängt aber auch von einzelnen Phänomenen ab. Wir haben seit dem Zweiten Weltkrieg eine ziemlich starke Anglisierung, die in letzter Zeit noch mal stark zugenommen hat. Beim Wortschatz betrifft das etwa Wörter wie Lockdown, in der Grammatik wird zum Beispiel vermehrt ein „in 2016“ verwendet. Diese englische Syntax stößt aktuell vielen auf, aber in 30 Jahren werden wir das wahrscheinlich nicht gar nicht mehr bemerken.


SM: Und das Sprachverhalten beim Gendern?

Kotthoff: Das ist ein riesiger Topf mit vielen Zutaten, die vor sich hin köcheln. Zum Beispiel verwenden wir jetzt mehr substantivierte Partizipien als früher, weil die als geschlechterübergreifende Personenreferenz oft gut geeignet sind. Die „Lehrenden“ haben wir an der Universität schon sehr lange, es bezeichnet schon seit 50 Jahren die gesamte Gruppe der Dozenten, Lehrbeauftragten oder Professorinnen. Jetzt benennen wir auch die Studierenden nach diesem Muster, innerhalb der Universität regt das niemanden mehr auf.


SM: Wie verhält sich das bei der gesprochenen Version, dem Glottisschlag?

Kotthoff: Das ist schwieriger. Es ist viel einfacher, Schüler/innen oder Bäcker/innen, zu schreiben. In der Lautung jedoch habe ich nach dem Glottisschlag ein alleine stehendes „innen“. Das gefällt vielen nicht, das deckt sich ja zudem mit dem Adverb „innen“, dem Gegenteil von „außen“. Erst recht merkwürdig wird es bei Komposita, wie beim „Lehrer-Innen-Zimmer“. Bei zusammengesetzten Wörtern muss ich erkennen, was überhaupt zusammengehört und das erkenne ich hier nicht mehr sofort: Was ist ein Innenzimmer? Ich glaube, das stört wirklich viele.


SM: In ihrem Buch „Genderlinguistik“ schreiben Sie auf die Frage, ob es ein geschlechtsübergreifendes, so genanntes ‚generisches‘ Maskulinum gibt: „Die Antwort besteht in einem Jein mit Tendenz zum Nein.“

Kotthoff: Ja, das mag für Entweder-Oder-Gläubige unbefriedigend sein, ist aber aus wissenschaftlicher Sicht unvermeidbar. Im Singular, wenn ich also von dem Piloten und dem Schneider rede, ist es sehr unwahrscheinlich, dass ein weibliches Wesen vor unser inneres Auge tritt. Beim Plural ist das schon deutlich anders, weil dabei immer auch Weltwissen eine Rolle spielt. Wenn ich also sage, die Frankfurter leiden unter dem Fluglärm, dann ist es relativ unwahrscheinlich, dass ich meine, nur die Männer würden leiden. Mein Weltwissen ist, dass Städte gemischt bewohnt werden.

Wir haben beim Verstehen immer einen Prozess, der über die Sprache hinausweist. Wir ziehen immer den Kontext heran, da in vielen Ausdrucksbereichen eine hohe Vagheit herrscht: Wenn ich durch eine Stadt fahre und sage, „das ist aber schön hier“, dann habe ich nicht konkretisiert, ob „hier“ die ganze Stadt meint, den Platz oder ein bestimmtes Gebäude. In dem aktuellen Kontext ist das vielleicht auch nicht wichtig, es wird sich später klären.

Die ganz hohe Präzision ist nicht an allen Stellen nötig. Wenn ich sage, ich muss noch mal schnell zum Bäcker, ist die Institution gemeint, der Laden. Durch die Scheiben der Bäckereien sehe ich vor allem Frauen. Natürlich kommen diese vor meinem inneren Auge auch vor, wenn ich sage, ich gehe zum Bäcker. Ich muss nicht an allen Stellen Beidnennung betreiben, denn dann wird ein Text umständlich. Die Anforderung, dass ich an jeder Stelle auch nicht-männliche Wesen benenne, kann je nach Geschmack eine Überforderung sein.


SM: Die gemischte Gruppe vor dem inneren Auge gelingt aber nicht zuverlässig?

Kotthoff: Es gibt sehr viele Graubereiche, in denen es nicht funktioniert, das heißt aber nicht, dass es nicht funktionieren kann. Ich kann über Migranten schreiben und mich im Beispielbereich mit Migrantinnen beschäftigen. Das würde den Leseprozess nicht stören. Ich kann einen Artikel anfangen über die Freiburger, die gerne im Schwarzwald wandern, und dann fortfahren mit Luise Müller und Jutta Bayer, die die Rucksäcke geschnürt haben, usw., dann haben Sie Frauen vor ihrem inneren Auge. Das tritt nicht in Konflikt zu den eingangs benannten „Freiburgern“.


SM: Die Verweiskraft des generischen Maskulinums auf das männliche Geschlecht ist also nicht eindeutig belegt. Wie müsste hier weiter geforscht werden?

Kotthoff: In der experimentellen Forschung wurden bislang kurze Texte untersucht, zum Beispiel: Zwei Vegetarier stehen vor der Metzgerei. Wenn Testpersonen diese Sätze mit Vornamen weiterführen sollen, werden in der Hauptsache männliche Vornamen genannt. Die Forschung zu kurzen Texten zeigt, dass die Maskulina auch im Plural dominant männlich fortgesetzt werden.

Eine Forschungslücke ist also die Beschäftigung mit längeren Texten.Wenn ich davon spreche, dass Italiener und Deutsche zusammen am Strand von Rimini sitzen, habe ich zwar bei „Italiener“ einen maskulin assoziierten Plural, bei „Deutsche“ aber nicht, weil das vom Adjektiv abgeleitet ist. Doch sind die Assoziationen vermutlich dennoch gemischt, was die Geschlechter anbelangt, denn unser Weltwissen sagt uns, dass am Strand viele Familien sitzen und es denkbar unwahrscheinlich ist, dass da nur deutsche und italienische Männer sitzen.


SM: Entscheidend ist also das Weltwissen?

Kotthoff: Entscheidend ist auch das Weltwissen. Beim Sprechen und beim Verstehen addiert sich immer eine Menge. Das geht in Windeseile über die Bühne. Ich finde Beidnennung sinnvoll; sie muss aber nicht penetrant werden, weil sie alles durchzieht.


SM: Im Moment setzt sich sehr das Gendersternchen durch und auch andere typografische Lösungen. Glauben Sie, dass das hilfreich ist, für die Erweiterung unserer Vorstellungskraft oder die Integration unterschiedlicher Menschen?

Kotthoff: Egal, welches Zeichen verwendet wird, ich werde mir die Gruppe vorstellen, die ich kenne und auch an diese denken. Wenn ich mit nichtbinären Personen zusammen singe, stelle ich mir die auch vor, wenn vom Singen die Rede ist, egal ob sie als Sänger!innen oder Sänger*innen vorgestellt werden. Das flüchtige Bild vor dem inneren Auge ist die Basis für Verstehen. Ob aber ein Graphem als Referenz auf nicht binäre Menschen taugt, ist eine offene Forschungsfrage. Wir beginnen jetzt an der Uni Freiburg ein Forschungsprojekt zu all diesen Fragen, eine Kooperation zwischen Evelyn Ferstl, Damaris Nübling und mir. Wir werden erforschen, welche Assoziationen bei Texten mit Gendersternchen oder anderen Zeichen gemacht werden. Bislang ist das offen.


SM: Nutzen Sie selbst typografische Lösungen?

Kotthoff: Ich gendere, seitdem ich schreibe und publiziere. Meine Dissertation habe ich 1988 mit Schrägstrichen geschrieben. Ich bin weitgehend dafür, finde aber, dass es viele Merkwürdigkeiten gibt in den Diskussionen der letzten Jahre: Ich persönlich finde den Unterstrich richtiggehend störend bis hin zur Unlesbarkeit. Ich weiß auch nicht, wer Lust hat, sich mit einer Lücke zu identifizieren. Dagegen war der Schrägstrich auch außerhalb der akademischen Welt schon stark im Einsatz, zum Beispiel bei Stellenausschreibungen. Eigentlich ist das auch eine schöne Verbindung zu dem Begriff „queer“; es wäre ein Leichtes gewesen, hier zu sagen: in Zukunft bitte hier auch an nicht-binäre Schreiner/innen denken. Das ist eine verpasste Chance, denn hier war die Usus-Bildung schon im Gang und Sprache ist abhängig von Usus. Aber die Büros, die diese vielen Leitfäden produzieren, haben andere Zeichen erfunden.


SM: Es gibt interessante Hinweise, dass die Debatte künstlich hochgekocht wird. Zum Beispiel vom Verein Deutsche Sprache, der viele der Schriftstellerinnen und Schriftsteller unter einem Aufruf versammelt hat, diesen aber nur nutzt, um Öl ins Feuer zu gießen und nicht, um konstruktiv an einer Lösung zu arbeiten.

Kotthoff: Mir gefällt dieses irre scharfe Pro und Contra nicht, dass wir derzeit haben. Ich befürchte, dass übersehen wird, wie elitär dieser Diskurs schon geworden ist. Es wäre zu einfach zu sagen, die Progressiven stimmen zu und die Konservativen lehnen das ab. Damit hat es sicher etwas zu tun, aber es hat auch mit Zugehörigkeit zur akademischen Welt zu tun. Nicht zuletzt hat das Gros der Forschung bislang an den Universitäten stattgefunden, es wurden also vor allem Studierende befragt.

Für die Empfindlichkeiten gibt es viele Gründe. Beim Verein für deutsche Sprache spielt sicher eine konservative Spracheinstellung eine Rolle, aber vielleicht spielen auch noch ganz andere Dinge eine Rolle. Man könnte den Gegnern des Genderns auch zubilligen, dass ihnen auch die vielen Leitfäden für eine gendergerechte Sprache auf die Nerven gehen. Tatsächlich werden an manchen Stellen schon die zweite oder dritte Leitfaden-Generation erstellt. Man kann sich durchaus fragen, ob da nicht ein autoritärer Gestus enthalten ist. Genauso ist es auch auf der Contra-Seite, die die Sprache von Goethe erhalten will. Auch da geht es um mehr als nur um Sprache: Es geht um Zugehörigkeiten und moralische Aufladung.


Unabhängig davon muss ich mich dem Problem stellen, dass ich, wenn ich nur über Lehrer schreibe, das Nomen männlich assoziiert wird. Ich muss überlegen, wie ich diese Primärassoziation unterlaufe. Bei langen Texten wie Büchern könnte man zum Beispiel kapitelweise zu „Lehrerin“ wechseln. Der Verein für deutsche Sprache stellt sich nicht der Frage, welche anderen Strategien geeignet sein könnten, die weniger penetrant daherkämen. Wir müssen Formen finden, an die sich viele Leserinnen und Leser gewöhnen können, selbst wenn sie erst mal nicht für das Gendern sind, denn auch das ist eine wichtige Frage: Wie kann so eine Heranführung an das Neue geschickter passieren.


SM: Was wäre ihr Tipp für die Zukunft? Wie geht die Entwicklung weiter?

Kotthoff: Wir können aus der Wissenschaft heraus nur den Beitrag leisten, die Debatte zu versachlichen. Ich denke, dass wir ein Nebeneinanderher unterschiedlicher Schreib- und Sprechstile akzeptieren sollten, sodass jede/r auch seinen eigenen Stil favorisieren kann. Dazu würde ich ermuntern, so wie ich auch dazu ermuntere, das eigene Sprachgefühl zu befragen. Mir persönlich sagt etwa mein Sprachgefühl, dass ich Gendern in Komposita nicht unbedingt brauche. Ich kann mit dem Bürgersaal leben – wenn dann im Text auch von Bürgerinnen die Rede ist.


SM: Liebe Frau Kotthoff, herzlichen Dank für das Interview



Helga Kotthoff hat gemeinsam mit Damaris Nübling das Buch „Genderlinguistik – Eine Einführung in Sprache, Gespräch und Geschlecht“ verfasst (unter Mitarbeit von Claudia Schmidt). Tübingen: Narr Francke Attempto, 2018. – ISBN 978-3-8233-6913-4. 393 Seiten, € 26,99.



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