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  • Susann Mathis

Gute Nachrichten: Die Welt geht unter


Katastrophen befriedigen den menschlichen Hang zum Drama, lösen aber auch Missbehagen bis hin zur Nachrichtenverweigerung aus. Für den Blickpunkt habe ich mir angeschaut, wie konstruktiver und lösungsorientierter Journalismus für mehr Information bei weniger Frustration sorgen soll und dazu auch zwei Praktiker, Alexander Mäder und Tilman Wörtz, interviewt.


Corona, anhaltende Buschbrände in Australien, Terroranschlag in Hanau, die katastrophale Explosion im Hafen von Beirut, dazu Dürren und Erdbeben, Überschwemmungen an der Ahr, Versagen in Afghanistan... ginge es rein nach der Logik „Bad News are good news”, böten die Nachrichten Stoff genug. Doch vielen ist „genug“ zu viel. Immer mehr Menschen schalten frustriert ab, legen deprimiert die Zeitung aus der Hand, fühlen sich überfordert, weil nur die Probleme thematisiert werden, aber keine Lösungen. Dieser Trend zur Nachrichtenverweigerung reduziert die Kompetenz einer Gesellschaft. Und falls das jemanden kalt lässt, so greift vielleicht ein anderes Argument: Nachrichtenverweigerer kaufen keine Zeitungen.

Probieren wir es also mit den guten Nachrichten: Bei der Online-Recherche findet man Jahresrückblicke im Sinne von „X gute Nachrichten, die wir fast übersehen hätten“. Da äußern sich die Vogue, der Focus oder das SZ-Magazin über die erste weibliche Vizepräsidentin der USA, das Verbot von Bleimunition in Feuchtgebieten (bisher starben dort Millionen Vögel an einer Bleivergiftung) und der Tagesspiegel verweist auf das Populismusbarometer der Bertelsmann-Stiftung: Trotz der Querdenker-Demos sind populistische Einstellungen in Deutschland im Jahr 2020 im Vergleich zu 2018 deutlich zurückgegangen. Doch Hand aufs Herz — im Vergleich zu den katastrophalen Ereignissen in den ersten Zeilen: Was bewegt Sie stärker?

Der Hang zum Drama

Im seinem 2018 postum erschienenen Buch „Factfulness“ fasst Hans Rosling seine jahrzehntelangen Erfahrungen aus Vorlesungen und Tests folgendermaßen zusammen: „dass die überdramatisierte Weltsicht so schwer zu überwinden ist, weil sie unmittelbar mit der Funktionsweise unseres Gehirns zusammenhängt.“ Vereinfacht gesagt: Das menschliche Gehirn als Produkt von Millionen Jahren Evolution musste oft zu raschen Entschlüssen kommen, um Gefahren aus dem Weg zu gehen. Schnelle Reaktionen verlangen nach Zuspitzung und nach Vereinfachung – nach Drama.

Rosling vergleicht den Hang zum Drama mit den Ursachen für Fettleibigkeit: Als Zucker und Fett lebenswichtige Energiequellen waren, waren Klatsch und dramatische Geschichten die einzige Quelle von Informationen. So wie wir heute lernen müssen, die Finger von Süßigkeiten und Chips zu lassen, so müssen wir auch unser Verlangen nach Drama – unsere dramatischen Instinkte, wie er es nennt – unter Kontrolle bringen.

Rosling leugnet weder Kriegstote, Terrorismus oder den Klimawandel, doch zusätzlich beschäftigt er sich mit den Statistiken über unsere Welt, die besagen, dass sich in den letzten 20 Jahren der Anteil, der in extremer Armut lebenden Weltbevölkerung nahezu halbiert hat, dass die Kindersterblichkeit extrem gesunken ist (ein zentraler Indikator für die Verbesserung der Lebensverhältnisse), die Zahl der Nuklearsprengköpfe abnimmt, die Alphabetisierungsrate steigt, und vieles mehr.

Die Suche nach Wahrheit

Berichten wir Journalist*innen also nicht richtig? Wer sich mit dieser Frage beschäftigt, landet schnell beim lösungsorientierten oder konstruktiven Journalismus. Ein Vordenker der „Constructive News“ ist Ulrik Haagerup. Der Däne, der bis 2017 noch Chefredakteur des öffentlich-rechtlichen Senders Dansk Radio war, stellte fest, dass sich die gesamte Medienindustrie immer nur auf die Vergangenheit konzentriere. Alle W-Fragen (was, wann, wie, wo und warum) seien rückwärtsgewandt. Es fehlten dagegen andere W-Fragen, zum Beispiel „Was jetzt?“. Aus diesen Überlegungen entwickelte Haagerup, das Konzept des konstruktiven Journalismus. Dabei geht es nicht darum, immer die gute Seite einer Story zu betonen. Das sei eine missverständliche Vereinfachung, sagt er. Vielmehr müsste es Ziel des Journalismus sein, den Leser*innen die beste verfügbare Version der Wahrheit (Carl Bernstein) zu liefern. „Nur einfach nicht negativ zu sein, das ist nicht konstruktiv“, so Haagerup.

Wie funktioniert der konstruktive Journalismus?

Es geht nicht einfach um das Abwägen von verschiedenen Nachrichten und dann deren Auswahl. In den Redaktionen, so heißt es, sei Deutschland noch nicht besonders weit damit. Doch es gibt verschiedene Radio- und Fernseh-Formate von ARD und ZDF und große, etablierte Online-Medien arbeiten immer wieder mit Ansätzen des lösungsorientierten Storytellings. Dazu gibt es einige Startups mit neuen, explizit konstruktiven Angeboten. Die Website Perspektive Daily etwa lockt mit freundlichen Nachrichten über Landwirtschaft mit Salzwasser, einem Vergleich, ob Glasflasche oder Tetra Pak besser für das Klima sind, aber auch eine holländische Plauderkasse oder den Corona-Rabatt für Familien. Insgesamt kleine Portionen Balsam für die malträtierte Seele, eine Ergänzung zum klassischen Nachrichtenstrom, ein wohltuender Eskapismus.

Squirrel News, „Eichhörnchen-Nachrichten“ ist eine App für das smartphone. Ihr Ziel ist es, die guten Nachrichten anderer Medien zu sammeln und darauf hinzuweisen: Wenn Arte über Kunstleder aus Kaffeesatz berichtet, der WDR über kostenlose Psychotherapie in Frankreich, der Standard über kostenlosen Zugang zu Binden und Tampons in Wien, erscheint das in den täglich wechselnden Squirrel-Meldungen, durch die man sich durchwischen kann.

Doch es geht nicht nur um die Auswahl der Nachrichten, es geht auch um eine veränderte Haltung der Journalist*innen. Der konstruktive Journalismus setzt auf fruchtbare Dialoge statt polarisierender Berichterstattung. Gerade während der Corona-Krise ließ sich gut beobachten, wie einige Medien sich darauf konzentrierten, die Spaltung der Gesellschaft für Aufmerksamkeit zu nutzen und diese zu verstärken. So werden Probleme und Konflikte verstärkt, statt auf Lösungen hinzuarbeiten. Dabei ist es im lösungsorientierten Journalismus keineswegs die Aufgabe der Journalist*innen, Lösungen zu erfinden. Die Aufgabe lautet vielmehr, Lösungsansätze zu recherchieren und wie die nächsten Schritte dorthin aussehen könnten.

Interviews

Auf den folgenden Seiten finden Sie Interviews mit zwei erfahrenen Praktikern des konstruktiven Journalismus:

Alexander Mäder ist Professor an der Stuttgarter Hochschule der Medien, Dozent am Nationalen Institut für Wissenschaftskommunikation in Karlsruhe, NaWik, und als freier Wissenschaftsjournalist unter anderem bei RiffReporter aktiv.

Tilman Wörtz arbeitet bei Zeitenspiegel Reportagen, einer Agentur von Journalist*innen und Fotograf*innen im schwäbischen Weinstadt. Im Magazin „MUT“ berichten sie über Menschen, die an Lösungen arbeiten.

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